Rede anlässlich „Zwei Jahre Ukrainekrieg“ zur Ulmer Friedensmahnwache am 23.02.2023
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DER KRIEG IN DER UKRAINE GEHT MORGEN IN DAS DRITTE JAHR.
Der Frontverlauf ändert sich kaum noch. Es geht ein paar Kilometer hin oder her. Es ist ein Abnutzungskrieg, ein Stellungskrieg, eine Patt-Situation in Kälte und Matsch, in Schützengräben und Ruinen. Der Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg, mit Verdun, drängt sich auf. Der Ukrainekrieg ist ein Stellvertreterkrieg. Es geht um Geo-Strategie. Es geht um Einfluss-Sphären. Es geht darum, welches Militärbündnis gewinnt, und welches Militärbündnis verliert- oder zumindest geschwächt wird. Es ist wie ein großes, weltweites Schachspiel. Die Präsidenten Putin und Biden sind die großen Schachspieler. Auf dem Spielfeld stehen Schachfiguren, große und kleine. Die werden vor- und zurückgeschoben. Die schlagen oder werden geschlagen. Auf beiden Seiten des „Spielfeldes“ gibt es Scharfmacher, die auf Konfrontation setzen, die auf immer mehr Waffen setzen. Zu den schlimmsten Schafmachern hierzulande gehört der Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter, Oberst a.D., CDU. Vor ein paar Tagen hat er gesagt – wörtliches Zitat: _“Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten [und] Gefechtsstände.“_ Zitat Ende, Deutsche Welle, 9.2.2024. Hat Kiesewetter vergessen, dass Deutschland bereits zweimal versucht hat, Russland zu besiegen? Frankreich hat es im 19. Jahrhundert versucht, und Polen im 17. Jahrhundert. Kein Land hat es jemals geschafft. Wie sollte ausgerechnet die Ukraine nun Russland besiegen? Aber nun wieder zurück zu dem großen, weltweiten „Schachspiel“. Für die Menschen an der Front ist es kein Spiel, sondern unvorstellbar grausame Realität.
OPFER DER GROßEN GEOSTRATEGIE SIND DIE KLEINEN LEUTE.
Die kleinen Spielfiguren vorne an der Front opfert man. Aber ich sage: Das sind keine Spielfiguren, sondern Menschen – jeder mit einem Namen. Jeder mit einer Familie. * In Videos sieht man manchmal, wie Panzer getroffen werden. Ich versuche mir vorzustellen, wie es den Menschen geht, die in einem solchen Panzer sitzen. Wie geht es diesen Menschen in den letzten Sekunden ihres Lebens? * Ich versuche mir vorzustellen, wie ein 19-jähriger im Schützengraben von einem Geschoss getroffen wird. Mancher ruft kurz vor dem Tod noch nach seiner Mutter! * Wie geht es einem Soldaten, der im Gesicht getroffen wird. Wenn der Unterkiefer weggerissen wird? Oder wenn die Nase und die Augen weggerissen werden. Wenn er das Kriegs-Lazarett erreicht? Wenn dort Narkose- und Desinfektionsmittel fehlen? Darüber hinaus gibt es ein Opfer, an das man nicht sofort denkt: die Natur, das Klima, verminte Landschaften, verseuchte Flüsse. Ein Leopard Panzer verbraucht 500 Liter Diesel auf 100 Kilometer. Ein Eurofighter verbraucht 5.000 Liter Kerosin pro Stunde. Der Ukrainekrieg ist nicht nur ein Menschenkiller, sondern auch ein Klimakiller. Aber es könnte noch schlimmer kommen: Wenn ein ukrainisches Atomkraftwerk getroffen wird. Oder wenn die ukrainische Armee es mithilfe seiner Verbündeten doch schaffen würde, die russische Armee zurückzudrängen. Dann könnte Putin nämlich den Einsatz der Atombombe befehlen. Diese Gefahr wird völlig unterschätzt! Die Lösung des großen geo-politischen Schachspiels liegt auf der Hand. Die Lösung wäre, dieses Machtspiel endlich zu beenden – und sich für Zusammenarbeit zu entscheiden!
HILFREICH FÜR EINEN SOLCHEN DIALOG KÖNNTE SEIN, SICH GEDANKLICH IN DIE ROLLE DES GEGNERS ZU VERSETZEN. DIE PERSPEKTIVE WECHSELT!
Wie würde es _mir _gehen, wenn ein gegnerisches Militärbündnis Jahr zu Jahr näher an mein Land heranrücken würde? Wenn das gegnerische Militärbündnis immer wieder Manöver vor meiner Haustüre
durchführen würde? Wenn der Nachbar mir sozusagen mit dem Messer vor dem Gesicht herumfuchtelt? Wie würde es mir gehen? Hilfreich könnte es auch sein, wenn wir – der Westen – eigene Fehler eingestehen würde. Vielleicht war die NATO-Osterweiterung doch keine so gute Idee. Von 1999 bis 2020 wurden insgesamt 14 osteuropäische und südosteuropäische Länder in die NATO aufgenommen. Auch US-Diplomaten wie George F. Kennan – ein großer, berühmter Mann – hat vor der Osterweiterung lange gewarnt. Westliche Politiker haben nicht auf ihn gehört. Das war ein Fehler.
ENTSPANNUNGSPOLITIK
Für mich ist Willy Brandt beim Thema Dialog noch immer ein Vorbild. Mitten im „Kalten Krieg“ ist er auf Russland zugegangen. Seine Entspannungspolitik hat am Ende zum Fall der Mauer beigetragen. Um 1990 herum schien die Konfrontation überwunden. Man plante ein „gemeinsames Haus Europa“ – von Lissabon bis nach Wladiwostok. Keine Blöcke, die sich feindlich gegenüberstehen, sondern Kooperation in alle Bereichen. Alle waren damals begeistert von diesem Plan. Der damalige russische Präsident Gorbatschow, der deutsche Bundeskanzler Kohl und sein Außenminister Genscher – alle waren begeistert. Außer die USA. Die USA wollten an der NATO festhalten, und an der Konfrontation. Das Ergebnis dieser Konfrontation sieht man heute. Präsident Putin und seine Berater entschieden sich im Jahr 2014 für die Besetzung der Krim. Dann für die Besetzung des Donbas. Und am 24. Februar 2022 für den Angriff auf die Ukraine. Das waren große Fehler.
NEUTRALITÄT
Es gab mehrere Vermittlungs-Versuche:
- Die beiden Minsker Vereinbarungen, 2014 und 2015
- Dann die Vermittlungsversuch durch den damalige Premierminister Israels, Naftali Bennet im März 2022
- Dann den Vermittlungsversuch durch den türkischen Präsidenten Erdoğan. Der türkische Außenminister Çavuşoğlu sagte dazu später: „Einige NATO-Staaten wollten, dass der Krieg in der Ukraine
weitergeht, um Russland zu schwächen“ - Außerdem gab es den chinesischen und den afrikanischen Vermittlungsversuch.
Mir fällt auf, dass es in diesen Verhandlungs- und Vermittlungsversuchen das Thema NEUTRALITÄT immer eine wichtige Rolle gespielt hat: Die Ukraine könnte ein blockfreies, neutrales Land werden. Ich halte das weiterhin für einen guten Weg: Die Ukraine sollte nicht länger Zankapfel zwischen den westlichen Ländern und Russland sein, sondern eine Brücke! Der Donbas und die Krim könnten autonome Regionen werden, die zwar offiziell bei der Ukraine bleiben, aber mit weitgehender Autonomie, mit vielen eigenen Rechten. Das könnte die Lösung sein.
AUCH DIE DEUTSCHE REGIERUNG SOLLTE DIE KRIEGSUNTERSTÜTZUNG ENDLICH BEENDEN. AUCH DIE DEUTSCHE REGIERUNG SOLLTE SICH FÜR EINE VERHANDLUNGSLÖSUNG EINSETZEN.
So wie die Mehrheit der Deutschen es inzwischen möchte. Laut N-TV vom 13. Februar sind inzwischen 64 % der Deutschen für eine Verhandlungslösung. Die Stimmung im Land hat sich langsam geändert. Nach zwei Jahren Ukrainekrieg sind die Deutschen zunehmend kriegsmüde – völlig zurecht kriegsmüde.
ZUM SCHLUSS NOCHMALS DIE FORDERUNGEN:
- Stoppt den Krieg in der Ukraine
- Für einen Waffenstillstand und Verhandlungen
- Gegen Waffenlieferungen
- Gegen die Aufrüstung unseres Landes, insbesondere gegen das 100-Milliarden-Euro-Paket
- Deutschland soll nicht kriegstüchtig werden, sondern friedenstüchtig
Vorgetragen von Rainer Schmid
Gedicht von Rose Ausländer
Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam
besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden
Vergesset nich
t es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte
die uns aufblühen läßt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen
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Vorgetragen auf der Ulmer Friedensmahnwache, anlässlich „Zwei Jahre Ukrainekrieg“ am 23.02.2023